Montag, 31. Mai 2010

Spazieren gehen: Ein komplexer Prozess


Als Eltern verliert man doch einige Hemmungen. Nein, diesmal soll nicht die Rede vom Stillen in der Öffentlichkeit, vollen Windeln oder besabberten Lätzchen sein, sondern vom hemmungslosen Blick auf andere Kinder und deren Eltern.
Kinder brauchen viel frische Luft und unsere Frida ist da keine Ausnahme. Der tägliche Spaziergang führt uns daher häufig durch die anliegenden Wohngebiete, durchs Dichter- und Rheingauviertel, aber auch mal in den Biebricher Schlosspark oder an den Schiersteiner Hafen. Wen wundert's, dass wir in unserer schönen Stadt in den eher ruhigen Straßen reihenweise anderen Eltern bzw. Müttern oder Vätern mit Kinderwagen begegnen. Und meist kommt es dann zu einem interessanten Aufeinandertreffen in mehreren Abschnitten.
Die Beobachtung: Von weitem werden die Eltern samt Kinderwagen taxiert, man macht sich ein Bild über die sportlichen oder luxuriösen Vorlieben des entgegen kommenden Pärchens, analysiert Farbauswahl und Accessoires.
Die Annäherung: Langsam schlendern die Pärchen sich gegenseitig abschätzend aufeinander zu, täuschen aber vor, selbst noch in anregender Konversation versunken zu sein. Eigene Laufwege werden überprüft - man will zwar nicht ausweichen, aber den Bürgersteig auch nicht blockieren.
Der Aufprall: Kurz bevor sich die Kinderwagenspitzen erreichen, blicken beide Paare wie durch Zufall nach oben und zumindest einer auf jeder Seite legt ein wissendes Grinsen auf und nickt dem jeweils anderen freundlich zu. Meist wird auch ein schüchtern-nettes "Hallo" ausgetauscht.
Die Trennungs- und Analysephase: Die Kinderwagen und ihre Schieber passieren einander, ein leichtes Kopfdrehen signalisiert die besten Wünsche für den weiteren Weg und schon geht das Getuschel los: "Hast Du gesehen, wie hässlich deren Wagen war?" - "Ja. Und er hat sauertöpfisch geguckt und nicht gegrüßt; dafür wirkte sie doch ganz nett..."
Im Extremfall ist zwischendrin noch die Gesprächsphase zu erwähnen: Die Eltern bleiben stehen und schauen ohne jedes Zögern - Hemmungen gibt es ja keine - in den jeweils anderen Wagen. Schnell ist die gemeinsame Basis gefunden, spätestens wenn es um einen nah beieinader liegenden Geburtstermin, das gleiche Geschlecht, ähnliche Tagses- und Nachtrhythmen oder Tricks zum Einschlafen geht.
All das zeigt: Spazieren gehen ist schon lange nicht mehr nur entspanntes Schlendern an der frischen Luft, sondern ein hochgradig komplexer psychologischer Prozess. Zumindest für junge Eltern mit Kinderwagen.

(WT, 23.4.2010)

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